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Der immune Geist

Eine Verbindung zwischen psychischer Gesundheit,  Immunsystem und Mikrobiom

Das Buch The Immune Mind von Dr. Monty Lyman ist eine paradigmenverändernde Erforschung einer der bedeutendsten zeitgenössischen Entdeckungen der Medizin: die tiefgreifende, bidirektionale Verbindung zwischen dem Immunsystem und der psychischen Gesundheit. Auf der Grundlage neuester Forschungsergebnisse der Neuroimmunologie räumt Lyman mit dem jahrhundertealten medizinischen Dogma auf, das Geist und Körper voneinander trennte, und zeigt stattdessen ein integriertes "Gesundheits-Überwachungssystem" auf, bei dem Immunprozesse Kognition, Emotionen und Verhalten direkt beeinflussen.

Das Verteidigungssystem der Gesundheit: Ein neues biologisches Paradigma

Der Britische Arzt und Psychiater Lyman gibt Beweise dafür, dass das Gehirn, das Immunsystem und das Darmmikrobiom ein miteinander verbundenes dreiteiliges Netzwerk bilden, das für die Aufrechterhaltung der ganzheitlichen Gesundheit verantwortlich ist. Dieser revolutionäre Rahmen stellt den Dualismus von Descartes in Frage, der die westliche Medizin beherrscht hat, in der geistige und körperliche Krankheiten in getrennten Krankenhäusern von unterschiedlichen Spezialisten behandelt wurden. Die Erkenntnis, dass Immunzellen über mehrere Wege (neuronal, endokrin, metabolisch und immun) ständig mit Gehirnzellen kommunizieren, zeigt, dass es "keine psychische Störung gibt, die nicht auch physisch ist, und dass die meisten physischen Krankheiten ein psychisches Element haben".

Biologische Kommunikationsnetzwerke

Auf Grund der neuesten Forschung beschreibt Lyman akribisch die anatomischen und molekularen Wege, die den Austausch zwischen Immunsystem und Gehirn ermöglichen:

Mikroglia - die Immunbildhauer des Gehirn: Die bisher übersehenen Immunzellen des Gehirns, die Mikroglia, bauen während der Entwicklung und des Lernens aktiv synaptische Verbindungen auf. Wenn sie dysreguliert sind, tragen sie zur Neuroinflammation bei, die mit Depression, Alzheimer und Schizophrenie in Verbindung gebracht wird.

Lymphgefässe zwischen Gehirn und Körper: Die Entdeckung der Lymphgefäße in den Hirnhäuten im Jahr 2015 hat die lange vorherrschende Meinung widerlegt, dass das Gehirn vom Körper-Immunsystem isoliert sei. Diese Gefäße, die das Gehirn umgeben, bieten direkte Kanäle für Immunzellen und Moleküle, die zwischen dem zentralen Nervensystem und dem peripheren Immunsystem hin- und herwandern.

Die Darm-Gehirn-Immun-Achse: Das Darmmikrobiom erweist sich als ein zentraler Akteur, Darmmikroben produzieren Neurotransmitter (wie Serotonin), aktivieren den Vagusnerv (die primäre neuronale Verbindung zwischen Darm und Gehirn) und setzen Stoffwechselprodukte frei, die die Gehirnfunktion beeinflussen. Eine bemerkenswerte Studie aus dem Jahr 2016 zeigte, dass Mäuse mit Mikrobenmangel abnorme präfrontale Kortexe entwickeln- die Gehirnregion, die für Entscheidungsfindung und Persönlichkeit zuständig ist.

Entzündungen und Gehirn Gesundheit

Eine Kernthese lautet, dass systemische Entzündungen die Ursache für zahlreiche hirn- und psychische Erkrankungen sind: Entzündungsfördernde Zytokine (Signalmoleküle wie IL-6, TNF-alpha) können die Blut-Hirn-Schranke überwinden oder über den Vagusnerv Signale aussenden, die sich direkt auf die Gehirnfunktion auswirken:

Depression als entzündliche Störung: Wegweisende Studien zeigen, dass ~30 % der depressiven Patienten erhöhte Entzündungsmarker aufweisen, die nicht durch andere medizinische Ursachen erklärt werden können. Die Entzündung reduziert die Verfügbarkeit von Serotonin, beeinträchtigt die Neuroplastizität im Hippocampus (entscheidend für die Stimmungsregulierung) und führt zu "Krankheitsverhalten" (Lethargie, Anhedonie), das von einer Depression nicht zu unterscheiden ist.

Autoimmunität und Psychose: Lyman stellt überzeugende Fälle vor, bei denen ursprünglich Schizophrenie diagnostiziert wurde und die damit verbundene Psychose nach einer Immuntherapie, die auf Autoimmunantikörper abzielte , vollständig verschwand. Dies veranschaulicht, wie "alternative Autoimmunfehler neurologische Störungen verschlimmern oder zu ihnen führen können", wenn Immunzellen Gehirnproteine angreifen.

Demenz: Chronische, niedriggradige Entzündungen ("inflammaging") beschleunigen neurodegenerative Erkrankungen. Vor allem Parodontitis (Zahnfleischerkrankung) erhöht das Demenzrisiko um 50-70 %, da orale Bakterien Entzündungen im Gehirn auslösen, was sorgfältiges Zähneputzen zu einem potenziellen neuroprotektiven Akt macht. Auch Entzündungen, die von Borrelien ausgelöst werden, können die Kognition beeiträchtigen.

Multiple Sklerose: MS ist eine Autoimmun-Erkrankung. Eine EBV (Epton Barr-Vitus) -Infektion erhöht das Risiko, an MS zu erkranken, um das Dreißigfache. Auch wenn wir nicht genau wissen, wie dieses Virus MS auslöst, könnte eine Behandlung des EBV, z.B. mit Impfstoff ev MS bekämpfen.

Klinische Implikationen: Neuroimmunologie in der Praxis

Die Neuroimmunologie revolutioniert die Therapie. Lyman befürwortet ganzheitliche Maßnahmen:

·      Ernährungsmodulation: Ballaststoffreiche, polyphenolreiche, fermentierte Lebensmittel diversifizieren das Mikrobiom und verringern Entzündungen. Verschiedene Mikroben haben verschiedene Geschmäcker – alle gute Bacteroidetes lieben Ballaststoffe.

·      Stimulation des Vagusnervs: Kälteeinwirkung, Summen und Meditation können die entzündungshemmende Wirkung des Vagusnervs aktivieren.

·      Wiederherstellung des Schlafs: Ein guter Schlaf ist entscheidend für die Ausscheidung von Hirntoxinen über das glymphatische System und die Regulierung von Entzündungen.

·      Stressabbau: Chronischer Stress erhöht durch anhaltende Cortisolausschüttung proinflammatorische Zytokine.

Evolutionäre und ganzheitliche Sichtweisen

Lyman erklärt wieso das Immunsystem als eine "uralte Intelligenz" und erklärt, warum sich unsere Abwehrkräfte manchmal gegen uns wenden.

Evolutionäre Fehlanpassung: Moderne Umwelten (ultra-verarbeitete Ernährung, chronischer Stress, sitzende Lebensweise) führen zu einer Fehlregulierung des Immunsystems, das für unterschiedliche Herausforderungen entwickelt wurde, was zu grassierenden Entzündungen und Autoimmunerkrankungen führt.

Emotionen als Immun-Feedback: Lyman unterstützt Lisa Feldman Barretts Theorie, dass Emotionen "Handlungsanweisungen" zur Aufrechterhaltung der körpereigenen Homöostase sind. Angst oder schlechte Laune können eine Immunaktivierung widerspiegeln, die ein Bedürfnis nach Ruhe und Heilung signalisiert.

Praktische Anwendungen mit Lifestyle-Medizin

The Immune Mind geht über die Theorie hinaus und bietet umsetzbare Strategien:

Verbesserung des Mikrobioms: Verzehrung von wöchentlich mehr als 30 Pflanzenarten, um eine größere Vielfalt an Ballaststoffen zu erhalten. Bevorzugung fermentierter Lebensmittel (Kefir, Kimchi) für optimale Probiotika.

Entzündungshemmende Praktiken: Regelmäßige Bewegung (auch Spazierengehen), Atemarbeit, Waldbaden ("shinrin-yoku") und Zahnhygiene.

Anpassung an den Tagesrhythmus: Ein gleichmäßiger Schlaf-Wach-Rhythmus reguliert entzündliche Zytokine.

Soziale Kontakte: Einsamkeit erhöht die Entzündung; Gemeinschaft puffert Stress.

Wissenschaftliche Validierung

Das Buch fasst Tausende von Studien zusammen. Zu den wichtigsten Erkenntnissen gehören:

Autopsiestudien: Nachweis aktivierter Mikroglia in depressiven Gehirnen.

Epidemiologie: Autoimmunpatienten weisen ein 45 % höheres Depressionsrisiko auf.

Neuroimaging: Entzündungen korrelieren mit einer verringerten Konnektivität in Belohnungsschaltkreisen.

Tiermodelle: Keimfreie Mäuse weisen soziale Defizite auf, die durch Probiotika reversibel sind.

Herausforderungen

Lyman räumt Grenzen ein:

·      Kein Allheilmittel: Die Immunopsychiatrie ergänzt bestehende Behandlungen, ersetzt sie aber nicht. "Vermeiden Sie spirituelle Umgehungen"; schwere Depressionen erfordern weiterhin Antidepressiva, rät Lyman.

·      Komplexe Kausalität: Entzündungen können bei einigen Erkrankungen eher eine Folge als eine Ursache sein.

·      Diagnoseinstrumente: Bluttests für Zytokine (z. B. CRP) sind in der Psychiatrie noch keine Routine, aber vielversprechend für die Identifizierung entzündungsbedingter Depressions-Subtypen.

Schlussfolgerungen

Körper und Geist sind eins. Alles, was den Geist beeinflusst, beeinflusst auch den Körper und umgekehrt. Es gibt psychosomatische, aber auch somatopsychische Krankheiten!

Depression als entzündliche Störung: ~30 % der depressiven Patienten haben erhöhte Entzündungsmarker aufweisen, die nicht durch andere medizinische Ursachen erklärt werden können. Diese Art von Depression kann durch Entzündungshemmer erfolgreich therapiert werden.

Autoimmunität und Psychose: Immuntherapie, die auf Autoimmunantikörper abzielt , kann Schizophrenie heilen.

Altern, Demenz und chronische Entzündungen: Chronische, stille Entzündungen ("inflammaging") beschleunigen neurodegenerative Erkrankungen und das Altern.

 

The Immune Mind, Dr. Monty Lyman, 2024

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Kommentare: 1
  • #1

    Beat Baumann (Montag, 02 Juni 2025 18:58)

    Lieber Stefan
    Danke für die Zusammenfassung.
    Lieber Gruss
    Beat