Mitochondriale Psychobiologie

 „Mitochondrien sind die biochemischen Dirigenten,

die die Musik unseres psychologischen Erlebens

in physiologische Symphonien übersetzen.

M.Picard

 Die Mitochondrien sind nicht nur Energielieferanten, sondern zentrale Akteure bei der Stressregulation, Alterung und psychischen Gesundheit.  Die Mitochondriale Psychobiologie ist ein interdisziplinäres Forschungsfeld, das die Rolle der Mitochondrien als Schnittstelle zwischen psychologischen Prozessen und biologischen Systemen untersucht. Martin Picard integriert Erkenntnisse aus Neurowissenschaften, Zellbiologie und Psychologie, um zu zeigen, wie Mitochondrien nicht nur Energielieferanten, sondern auch zentrale Akteure in der Stressantwort, Emotionsregulation und Entstehung psychiatrischer Erkrankungen sind.  (Picard, 2019, Current Opinion in Behavioral Sciences)

Mitochondrien als psychobiologische Signalgeber

  • Jenseits der Energieproduktion: Mitochondrien steuern Kalziumsignale, produzieren reaktive Sauerstoffspezies (ROS), regulieren Apoptose und setzen mitochondriale DAMPs (Damage-Associated Molecular Patterns, z. B. zellfreie mtDNA) frei, die Entzündungen und Zellstress auslösen.
  • Mitochondriale Allostase: Chronischer psychosozialer Stress führt zu „mitochondrialer Allostaselast“ – einer Erschöpfung der mitochondrialen Anpassungsfähigkeit, die langfristig metabolische Dysfunktion und neuropsychiatrische Symptome fördert.
  • Gen-Umwelt-Interaktion: Mitochondriale DNA (mtDNA) ist aufgrund fehlender Reparaturmechanismen besonders anfällig für Umwelteinflüsse (z. B. Stress, Toxine), was epigenetische Veränderungen und transgenerationale Effekte begünstigt.

Wie Mitochondrien Psyche und Körper verbinden

  • Stressachse (HPA): Glukokortikoide (Cortisol) modulieren mitochondriale Funktionen – z. B. hemmen sie die Elektronentransportkette und fördern ROS, was neuronale Schäden im präfrontalen Kortex begünstigt.
  • Neurotransmitter: Mitochondrien regulieren die Synthese von Serotonin, Dopamin und GABA durch Bereitstellung von Cofaktoren (z. B. Tetrahydrobiopterin). Dysfunktion führt zu Störungen der Stimmungsregulation.
  • Immunsystem: Mitochondriale DAMPs aktivieren das Inflammasom NLRP3 über den mtDNA-TLR9-Pfad, was depressive Verhaltensmuster in Tiermodellen auslöst.
  • Zelluläre Kommunikation: Mitochondrien tauschen über extrazelluläre Vesikel Signalmoleküle (z. B. miRNAs, mtDNA) aus, die systemische Stressreaktionen koordinieren.

Mitochondrien als Sensoren und Vermittler psychischer Belastung

Picards Team zeigte, dass Mitochondrien in Gehirnzellen (v. a. im präfrontalen Cortex) auf psychische Belastung reagieren und Entzündungsprozesse triggern können:

  • Neuroinflammation: Bei chronischem Stress setzen Mitochondrien vermehrt mtDNA-Fragmente frei, die über den cGAS-STING-Weg Entzündungen im Gehirn auslösen.
  • Depressionsmodell: In Tierversuchen korrelierte mitochondriale Dysfunktion in Gliazellen mit depressivem Verhalten.

Sandi, Picard et al. PNAS, (2024). Psychosocial experiences are associated with human brain mitochondrial biology (Psychosoziale Erfahrungen sind mit der mitochondrialen Biologie des menschlichen Gehirns verbunden).

Mitochondrien, Stress und biologisches Alter

Beim Menschen sagt die chronische Aktivierung zellulärer Stressreaktionen den Funktionsverlust voraus, beschleunigt die Alterung und erhöht die Sterblichkeit. Chronisch gestresste Zellen verbrauchen also erheblich mehr Energie, um jede Zellteilung zu durchlaufen. Dieser schwerwiegende Zustand des Hypermetabolismus führt zu einer schnelleren Verkürzung der Telomere und einer genomweiten, auf DNA-Methylierung basierenden epigenetischen Alterung, die über die gesamte Lebensspanne der Zelle beobachtet wurde und die mito-nukleare Signalübertragung widerspiegelt. Dieser beschleunigte Alterungsphänotyp gipfelt in 20-40 % weniger maximalen Zellteilungen (d. h. Hayflick-Grenze). Hypermetabolismus und erhöhter Energiefluss durch Mitochondrien kann deshalb die Lebensspanne verkürzen.  (M.Picard, Innovation in Aging, 2022)

Die MiSBIE-Studie (Mitochondrial Stress, Brain Imaging, and Epigenetics)

Datenplattform zur Untersuchung der Verbindung zwischen Geist und Mitochondrien bei Gesundheit und bei mitochondrialen Erkrankungen.

Die MiSBIE-Studie eerforscht die offenen Fragen für relevante Bereiche, die von der Psychologie und den Neurowissenschaften bis zum Immunmetabolismus und der mitochondrialen Medizin reichen. Diese  interdisziplinäre Arbeit wird dazu beitragen, die Rolle der Mitochondrien und der Energie in der menschlichen Psychobiologie, dem Krankheitsrisiko, der Gesundheit und dem Wohlbefinden zu erhellen (Picard und 47 andere Authoren in Trends in Endocrinology and Metabolism, 2024)

Zusammenfassung

Geist-Körper-Prozesse werden durch Mitochondrien reguliert, was darauf hindeutet, dass dieser Zusammehang von unseren molekularen und anatomischen reduktionistischen Modellen übersehen wurde. Diese Geist-Mitochondrien-Hypothese  schlägt vor, dass psychobiologische Prozesse subjektive menschliche Erfahrungen mit molekularen und energetischen Prozessen in den Mitochondrien verbinden. Die Verbindung geht in beide Richtungen: Psychische Zustände können die Biologie der Mitochondrien beeinflussen, und die Mitochondrien können psychologische Prozesse beeinflussen. Sollte dies empirisch belegt werden, würde dies bedeuten, dass ein erheblicher Teil der natürlich auftretenden Unterschiede in den Körper-Geist-Prozessen, die Gesundheit und Krankheitsrisiko zwischen Individuen beeinflusst.

Therapeutische Implikationen

Picard plädiert für gezielte Interventionen zur Stärkung der mitochondrialen Allostase durch Stressreduktion. Die Beschäftigung mit kontemplativen Praktiken erleichtert einen erholsamen Zustand, der als "tiefe Ruhe" bezeichnet wird, vor allem durch Sicherheitssignale, bei denen die energetischen Ressourcen auf die zelluläre Optimierung und weg von energieaufwendigen Stresszuständen gelenkt werden (Picard et al. 2024: Deep Rest: An integrative model of how contemplative practices combat stress and enhance the body's restorative capacity)

Fazit

Die Arbeiten von Dr. Picards und seinen Mitarbeitern revolutionieren das Verständnis von Mitochondrien als dynamische, anpassungsfähige Organellen, die weit über die Energieproduktion hinausgehen. Seine Erkenntnisse verbinden Psychologie, Genetik und Zellbiologie und eröffnen neue Wege zur Prävention und Behandlung von Stressfolgen, psychischen Erkrankungen und altersbedingten Leiden.